Al Cook



Cotton Termine
Cotton Booking
Cotton Diskographie
Cotton Chronik
Cotton Autobiographie
Cotton Blueskitchen
Cotton Pressetext
Cotton
Impressum
Cotton Home

BLIND LEMON JEFFERSON

 BLIND LEMON JEFFERSON

Der Orpheus des Country-Blues © Al Cook 2003

Ich will nun über meinen absoluten Favoriten unter den frühen Country-Blues Sängern berichten. Dieser Mann und seine Musik ist heute bis auf den vagen Bekanntheitsgrad selbst unter spezialisierten Blues und Oldtime-Jazz Fans eine rätselhafte Figur geblieben, die aus einer anderen Galaxie zu stammen schien. Blind Lemon Jefferson als Gesamtkunstwerk ist einfach zeitlos. Das einzig verbürgte Foto zeigt einen aufrecht, fast in Erstarrung verharrenen beleibten Mann, dessen geschlossene Augen durch eine randlose Brille durchaus wach die Welt zu sehen vermochten. Rätselhafterweise ist die Brille aber durchsichtig und nicht schwarz, wie sie Blinde Menschen normalerweise tragen. Unbestätigte Berichte sagen, daß Lemon Jefferson nicht immer blind war und offensichtlich über etwas Restlichtsensibilität verfügte. War er Typ Eins-Diabetiker, der infolge seiner relativen Fettleibigkeit an den Spätfolgen dieser tückischen Krankheit erblindete und schließlich starb. Sogar in jüngster Vergangenheit war der Diabetes nicht optimal beizukommen. Meine Mutter starb nach einer diabetesbedingten Beinamputation an Leberzirrhose und war auch im Begriffe, an Grauem Star zu erblinden. Als Blind Lemon Jefferson in der Silvesternacht 1929-30 tot unter einer Schneedecke gefunden wurde, die der harte Chicagoer Winter über ihn legte, war er längst zur lebenden Legende der schwarzen Volksmusikkultur des alten Südens geworden. Da Todesfälle unter den Schwarzen in den seltensten Fällen sonderlich beachtet wurden, existieren von Blind Lemon weder behördliche Totenscheine, noch Autopsieberichte oder Zeugenaussagen über dessen Ablebensumstände.


Als seine Plattenfirma Paramount Records über den A&R Manager J. Mayo Williams von Lemons Tod erfuhr, beauftragte man den Hauspianisten Will Ezell, Jeffersons Leiche nach Texas zu überführen, wo man ihn einfach in einem Erdloch verbuddelte. Nicht einmal einen Gravemarker oder ein Holzkreuz war er seiner staatenübergreifenden Fangemeinde wert. Lemon sang in weiser Voraussicht, ohne nennenswerte Begräbnisfeierlichkeiten verscharrt zu werden: „There’s one kind favor, I ask of you….See, that my grave is kept clean.“ Bluessänger hatten in der schwarzen Gesellschaft kein Recht auf ein christliches Begräbnis, denn sie waren Sünder. Erst Jahrzehnte später spendierten Bluesfans über die Stadtverwaltung von Wortham, Texas, einen einfachen Marker, der wahrscheinlich nach dem Abgang unserer Generation ebenfalls verrotten wird, wenn Jeffersons Musik nicht durch Nachkommende in Ehren gehalten wird.

Doch nun wieder zu Jefferson selbst.
Die offensichtlich aus Fensterglas bestehende Brille sitzt auf einer etwas zu kurzen, breiten Nase, der ein stark aufgeworfenes dickes Lippenpaar folgt. Sein Gesicht schließt ein kleines Kinn ab, das abrupt, aber unmerklich in einen massiven Hals übergeht, der sorgfältig durch ein blütenweißes Hemd abgedeckt wird.
Warum ihm der Fotograf eine mit Zeichenstift getupfte Krawatte dazuretuschierte, ist unklar. Ich vermute aber, daß Lemon einen Southern Bowtie, also eine Halsschleife getragen haben konnte. Da man ihn auch im Norden verkaufen wollte, vermeinte man, dieses typische Südstaatler-Accessoire würde die nach dem Norden emigrierten Schwarzen irritieren, weil es so an den verhaßten Süden und dessen Semi-Sklaverei erinnerte.


Zum konservativen Sonntagsstaat gehörte auch der drei- oder viergeknöpfte Gehrock, der nur bei besonderen Feierlichkeiten und zum Kirchgang getragen wurde. Für Blind Lemon Jefferson bedeutete es sicher eine besondere Feierlichkeit, sein Kreuz unter einen Plattenvertrag zu setzen.
Das Foto, das ihn zeigt, schließt kurz unter seinen Knieen ab. Vermutlich sitzt Lemon auf einer Klavierbank, auf der auch Blind Arthur Blake und noch etliche Paramount Stars für Portraits posierten. Die Gitarre, die er in den Händen hält, könnte möglicherweise eine Stella sein, das Standardinstrument der damaligen Bluessänger. Für eine normalgroße Stella ist sie aber zu klein. Genauso besteht aber die Möglichkeit, daß Lemon auf einer ordinären Wanderklampfe gespielt hat. Das weitaus Interessantere ist jedoch die Art, wie er seine Gitarre  hält. Er spielt sie, fast auf dem Schoß aufliegend, an einer fast absurd langen Schnur, die als Tragegurt fungiert. Am Daumen der rechten Hand ist mit einiger Mühe ein Pick zu erkennen, während die Griffhand einen C Dur Akkord ansetzt. Jeffersons Portrait wirkt stolz, selbstbewußt und sicher, vor allem aber fasziniert es durch seine zeitlose Ausdruckstärke. Blind Lemon Jefferson scheint aus einem undefinierbaren Nichts zu kommen, um nach seinem sagenumwobenen Tod wieder in dieses Nichts zu entschwinden, seine für heutige Ohren fremdartig-rätselhafte, aber packende Musik zu hinterlassen.

Am unteren Ende des Bildes steht in zügiger Schrift eine Widmung: „Cordially Yours, Blind Lemon Jefferson“. Lemon, der nicht nur seiner Blindheit wegen Analphabet war, konnte das nicht geschrieben haben, denn er besuchte nicht einmal eine Blindenschule. Tatsächlich war diese Widmung das Werk eines oder einer Studioangestellten. Ich glaube, daß es Aletha Robinson, verehelichte Dickerson, ihres Zeichens Sekretärin und Pianistin bei Paramount Records gewesen ist, die diese und noch andere Signaturen angefertigt haben könnte. Als man sie Jahrzehnte später nach Lemon fragte, erinnerte sie sich noch an ihn „mit einem Schauder des Ekels“, wie sie sagte. Lemon aß mit den Händen, soll ständig nach Fusel gestunken und sich für die Aufnahmesessions mit einer Flasche Moonshine (billiger selbstgebrannter illegaler Whisky) und einer One-Dollar Hure begnügt haben. Als er einmal verschwitzt und schmutzig zu einer Session erschien und sich waschen wollte, warf man ihm einen dreckigen, nassen Ausreibfetzen zu und setzte ihn vor’s Mikrophon.


Thomas Shaw, ein Zeitgenosse und Kumpel berichtete aber ganz anders über Lemon. Lemon soll stets gut, aber etwas grell angezogen gewesen sein, trug nie Landarbeiterkleidung und trug teure Ed Mc Klapp Schuhe und man berichtete, daß Lemon nie auf Events spielte, die unter seinem Niveau lagen. Ebenso hatte er strenge Prinzipien, was das Musizieren betraf. Einerseits sang er ein- bis mehrdeutige Lieder, war trotz seines Ehemann-und-Vater-Status ein Weiber-Chaser und legte alles was nach Weib roch, auf die Matte. Lemons zweites Gesicht aber war das der frömmelden „Churchgoin‘People“, die stets bereuten und an Sonntagen die Messe besuchten. Lemon weigerte sich strikt bis zum nächsten Sonnenaufgang , seine Gitarre anzurühren. Wenn ihm nach religiöser Musik war, nannte sich Lemon Reverend L.J.Bates. Ein Weißer, der seinen „Black Snake Moan“ hören wollte, bot ihm hundert Dollar für eine Nummer, aber Lemon lehnte ab. Seine Mutter, meinte er, habe ihm bei strenger Strafe und Höllengericht verboten, am Sonntag Blues zu spielen, denn es sei der Tag des Herrn und an diesem Tag habe diese dreckige Teufelsmusik nichts verloren. Blind Lemon mußte also auch ein ziemlich selbstbewußter Mann gewesen sein, auf keinen Fall ein sogenannter „Zulu“, wie die servilen, traurig-glubschäugigen Bluestypen von den Baumwollfeldern genannt wurden.
Natürlich sang Lemon von den üblichen Bluesthemen, gemeinen Weibern, Sexualängsten, Razzias auf Moonshine Parties, oder ins Nichts abfahrende Züge, die ihm sein Mädchen davonnahmen. Obwohl er offensichtlich nie im Gefängnis war, schrieb Jefferson einige Lieder, die offensichtlich als Solidarsongs für viele seiner Kumpels gedacht waren. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war Lemon bereits in den Straßen von Dallas,TX eine bunte Berühmtheit. Thomas Shaw berichtete, daß sein Publikum an Wochentagen überwiegend weiß(!) war. Samstags spielter er dann in den schwarzen Baumwollkneipen. Als er 1926 mit „Black Snake Moan“ quasi einen Nationalen Hit landete, hatte Blind Lemon Jefferson einen Status wie später Elvis Presley. Er kam am Vormittag mit seiner jeweiligen Begleiterin an, trank Kaffee und die Straße war voll mit Zuhörern, die geduldig warteten, bis er sein Frühstück beendet hatte. Dann nahm er die Gitarre zur Hand, setzte sich hin und spielte den ganzen Tag. Augenzeugen dokumentieren, daß Lemon auch Tagesschlager spielte, wenn man ihn entsprechend bezahlte. Man bedenke, daß es ein Schwarzer aus dem tiefsten Süden ohne mediale Hype schaffte, seine Tonträger in sechsstelligen Zahlen zu verkaufen und mit derartig komplexen Gitarrespiel durch seine immense Zuhörerschaft die Straßen blockierte. Das entspricht heute einem Megastar vom Kaliber eines Michael Jackson. Es gab Schwarze, die in ihrem Leben noch nie eine Hundert-Dollar Note zu Gesicht bekommen haben, doch Lemon schaffte es, sich durch Mayo Williams ein 1500 $ Konto anzulegen. Leider kam kurz nach seinem Tod ein Weib daher, das sich als seine Witwe glaubhaft machen konnte und räumte das gesamte Konto bis auf den letzten Cent ab. Ein Sohn, den er Miles nannte, wurde 1922 oder 23 geboren, man weiß aber nicht, was aus ihm geworden ist. Gerüchten nach soll er auch Musiker geworden sein.



Die Blueswelt wartet bis zum heutigen Tag auf eine Biografie, die der Jefferson-Kenner Paul Swinton verfaßt hat. Vielleicht bringt das Buch Licht in eine ewig halbschattige Dunkelheit, als irgendwann im einsamen Texas des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf einer Plantage in Couchman, nahe Wortham das jüngste von zehn Kindern geboren wurde, einen Jungen, den man Lemon nannte. Kein Mensch kennt seinen wahren Vornamen. Seine gelblich-braune Haut und sein kugelrunder Kopf sollen für seinen Namen verantwortlich gewesen sein. Es wird berichtet, daß Lemon blind geboren wurde, doch andererseits kannte er die Gegend besser als die Sehenden. Ich glaube, daß Lemon an einem Glaukom erblindete. Es gibt ein Foto meiner Mutter, die als kleines Mädchen unter dieser tückischen Augenkrankheit litt, die damals häufig vorkam. Aber die Medizin war bei uns offensichtlich weiter und Mutter mußte nicht erblinden. Sleepy John Estes, der später Blind John Estes genannt wurde, erkrankte jedoch erst als alter Mann. War es also Diabetes oder ein Glaukom ? Tatsache ist, daß es in Lemons Liedern so viele Hinweise auf ehemaliges Sehvermögen gibt, daß man Victoria Spivey, einer Zeitgenossin glauben kann, wenn sie sagt: „ Ich glaube, der alte Gauner hat noch genug gesehen.“ Übrigens stammt die Zeile: „The blue light was the blues, the red light’s been my worried mind“ von ihm. Robert Johnson hat sie ihm für sein „Love In Vain“ gemopst.
Blind Lemon Jefferson’s Geburtsjahr wird offiziell mit 1897 angegeben, das wird aber durch den Blueswissenschaftler Stephen Calt bezweifelt. Er vermutet, daß Lemon um 1880 geboren wurde. Ich vermute eher gegen 1883 und 1885, also zu Zeiten Charley Pattons, der während der 20er und 30er im Mississippi-Delta wirkte. Was Blind Lemon so historisch interessant macht, liegt in der Tatsache, daß er künstlerisch nicht determinierbar ist. Man weiß nicht, wer ihm das Gitarrespielen beigebracht hat, wo und wie er diese Phrasierungen und seinen unprediktablen, ja unberechenbaren Arpeggio-Stil entwickelt hat. Ein bekanntes Blues-Lexikon führt als Einfluß einen gewissen Hobart Smith an, aber kein Mensch weiß, wer das war. Charley Patton’s Mentor Henry Sloan hatte auch nie eine Platte gemacht, aber er war im Delta eine bekannte Figur und gründete durch seine Schüler eine regionale Bluestradition, während Blind Lemon Jefferson als unnachahmlich und uninterpretierbar in die Annalen des Blues einging.



Über Lemons Leben vor seiner kurzen Popularitätskarriere ist fast nichts bekannt. Mit 14 soll er schon so dick wie seine Eltern gewesen sein und als blinder, einsamer Junge war er für die Knochenarbeit in den Feldern nicht brauchbar. Die einzige Möglichkeit zu Geld zu kommen, war der Profisport oder sich durch Musizieren auf der Straße über Wasser zu halten. Seine Eltern Alec und Classie Jefferson, die noch in Sklaverei geboren wurden, ließen Lemon nicht auf Scheunen-Parties, Kirtagen und Samstag-Nacht Picknicks und Barrelhouses spielen, weil es für ihn gefährlich werden konnte. Man betrank sich mit billigem Selbstgebranntem, war hinter den Weibern her, spielte Crap und betrog nach Strich und Faden. Schlägereien und Messerstechereien waren an der Tagesordnung und die Musiker wurden, wenn sie gefielen, oft von stockbesoffenen Weibern sexuell attackiert, was wieder ihre eifersüchtigen Männer auf die Palme brachte und diese mit Messern und großkalibrigen Revolvern in Aktion traten. Gegen Schluß der Vorstellung kamen die dicken Mammies und holten ihre Töchter mit zweischneidigen Äxten und Rasiermessern bewaffnet, nach Hause zurück. Ließ ein Mann das Mädchen nicht los oder schändete ihre Ehre, droschen die Mütter mit ihrer Bewaffnung drauflos, bis es Schwerverletzte und Tote gab. Kein Schwein kümmerte sich um ein paar tote „Nigger“. Die Masse an herumstreunenden Saisonarbeitern bot sich von selbst zum Zugreifen an. So war es damals zu Jeffersons und Pattons Zeiten.
Lemon wurde schnell erwachsen und ging nach Dallas. Dort war mehr Geld zu machen, als im Ödland von Zentral-Texas, das damals bloß verrostete Ölbohrtürme zu bieten hatte. Als Playground wählte er das Viertel um die Elm-Street, wo am  22.November 1963 J.F. Kennedy erschossen wurde. Damals muß in dieser Gegend das Rotlichtviertel gewesen sein. Blind Lemon Jefferson begann dort seine Karriere als Straßensänger. Er hatte im Vergleich zu den Mississippi-Sängern eine durchdringende klare Tenorstimme, die von tiefem Pathos getragen war. Wenn er sang, spielte er fast tonlose, undefinierbare Akkorde oder Dreiklänge, um nicht den Rythmus zu verlieren, aber als der Zwischenraum zur nächsten Strophe gefüllt werden mußte, trat sein Talent hervor. Als Antwort zur gesungenen Phrase folgte ein oft unberechenbares, manchmal gehetztes Arpeggio als eine Art Kontrapunkt. Die rhythmische Würze bildete oft eine Art rudimentärer Steptanz, der in einer Ragtime-Nummer namens „Hot Dogs“ gut hörbar ist. Dieser Call-and-Response Stil, der faktisch die älteste Form Afro-Amerikanischer Kultur darstellt, blieb in gewissen Regionen, doch vor allem auf den Gefängnisfarmen lange erhalten. Die Bluesforscher John und Alan Lomax besuchten vor allem Gefängnisfarmen, weil sie überzeugt waren, daß sich archaisches Volksliedgut durch die oft lebenslange, jedoch langjährige Isolation der Inhaftierten erhalten konnte.


Schnell verbreitete sich die Kunde, daß im tiefsten Texas ein blinder Bluessänger einen unnachahmlichen Gitarrensound hatte. Er konnte auf sechs Saiten Dinge spielen, die niemand nachvollziehen, geschweige denn kopieren konnte. In Texas spielte man eher wie der ästhätischere Lonnie Johnson. Lemon begann am Beginn der Baumwollernte seine ausgedehnten Reisen durch den Süden. Von Mississippi und Arkansas bis Georgia und den Carolinas war Blind Lemon der unbestrittene Star der „Frolic“-Szene. Barrelhouses, Bordelle, Freiluftevents, Stall-und Scheunenfeste waren die Orte in denen er das Publikum begeisterte und die lokalen Musiker verfielen zusehends in Komplexen und so mancher traute sich im Beisein Jeffersons keine Gitarre anzurühren. Thomas Shaw berichtet über diese Zeit: „ Lemon war ein bluesman par excellence. Er war von der Sorte, die man nicht jeden Tag auf der Straße findet. Wo er seine Gitarre auspackte, war er der King. Wenn er spielte, hatten die anderen Pause, keiner wagte es, ihn auf eine Session anzusprechen, denn Lemon spielte wie keiner. Man konnte nur mit offenem Mund dastehen und sich wundern, wie zum Teufel er solches Zeug spielen konnte.“ Auch als Sänger war er unvergleichlich. Wenn Lemon auftauchte, spielten die Jug-Bands ihre letzten Takte und seine Stimme schnitt durch die ölige Hitze der Mississippi Nacht. Als Lightning Hopkins, der Texas-Bluesman in zweiter Generation, noch ein kleiner Junge war, kannte er Lemon als gern gesehenen Gast seines Dorfes. Er berichtete, daß ihn der Meister ein paar Takte mitspielen ließ und Lightning einiges von ihm lernen konnte.
Wir können uns heute kaum vorstellen, wie sich diese nomadisierenden Bluessänger, die nichts als ihre Gitarre besaßen, im Freien vor oft hundert bis zweihundert Zuhörern durchsetzen konnten. Es gab nichts, womit man eine Verstärkung des Instrumentariums bewerkstelligen konnte. Es gab wohl sogenannte Flüstertüten die von Orchestersängern verwendet wurden, aber für Saiteninstrumente galt ein auswegloses Gesetz; laute Resonanz, Saiten wie Kletterseile und dann reingedroschen in den Kasten. Doch was faszinierte ein Livepublikum an Jefferson’s kompliziertem Spiel. Er kannte weder Taktgefühl, noch konnte man nach seiner Musik tanzen. „Es war Musik zum Zuhören.“ konterte Thomas Shaw. Bei Tanzmusikern war Lemon unbeliebt. „Der kann nicht Gitarre spielen, ihm fehlt jeder Rhythmus und sein Timing ist eine Katastrophe.“ Mance Lipscomb, ein Zeitgenosse Lemons, überlebte bis in die 70er. Er meinte, daß Lemon außer den „Yellow Dog Blues“ nichts spielen konnte und keinen Musiker vom Hocker heben konnte. Für Thomas Shaw und die Mehrheit der Bluesmusiker war Blind Lemon Jefferson ein gottähnliches Talent, das unerreichbar war.


Offensichtlich waren die Hörgewohnheiten der archaischen Landbevölkerung der Zwischenkriegszeit in keinster Weise mit der heutigen Taubheit für Feinheiten und der Konzentrationsunfähigkeit breitester Publikumsschichten vergleichbar. Noch zu meiner Jugendzeit konnte man mit ein paar Akkorden auf einer Wandergitarre begeisterungsfähiges Publikum anlocken. Mir kommen oft die Tränen, wenn sich in der Fußgängerzone durchaus hörenswerte Talente die Finger in Fetzen spielen und hunderte Passanten achtlos vorbeigehen, um dann ein paar Meter weiter miserablen Breaktänzern zu applaudieren. Über das heutige Straßenpublikum könnte ich genug Geschichten erzählen, aber wir wollen ja die Zeit und das Genie Blind Lemon Jeffersons betrachten.
Die Menschen schienen um Klassen sensibler für Feinheiten, Songtexte und geschickt eingesetzte Showelemente gewesen zu sein. Die heutzutage dampfhammerartig einpeitschende Technoröhre und die Flut an immer brutaler aufgedrängten Reizen hat über unsere Empfindungswelt eine Lederhaut wachsen lassen. Die „Vollgastheorie“ nach der unser DJ Ötzi lebt und agiert, brauche ich ja nicht mehr zu kommentieren.

Ich lernte die Musik Blind Lemon Jeffersons kennen, als mir mein Nachbar ein Importband mit Blues und Jazz lieh. Als ich darauf eine faszinierende Aufnahme fand, die sich anhörte, als entstammte sie einer fernen Galaxie, war’s um mich geschehen. Der Sänger hörte sich an, als säße er vor seiner Hütte und singt seinem Mädchen, die er als „Shuckin‘ Sugar“ bezeichnete, ein Ständchen. Es war Blind Lemon Jefferson. Der für meine Rock’n’Roll- gewohnten Ohren außerirdisch und jenseitig klingende Sound wurde einst von den Paramount Studios produziert. Dieses Plattenlabel war ein Seitenarm der Wisconsin Chair Company in Port Washington, einer Möbelmanufaktur, die auf Schulmöbel spezialisiert war und nebenbei sogenannte „Victrolas“, eine Art Tonmöbel produzierte. Was fehlte, war ein Plattenmarkt, der noch unerschlossen war und auf dem man gleich die Abspielgeräte verkaufen konnte. Man kam bald auf die ansehnliche schwarze Population im Süden und die Emigranten, die sich an die Südseite von Chicago angesiedelt hatten und ihre Musik hören wollten. Ein bißchen Heimat in der Fremde tut immer gut und so begann man Talent Scouts in den Süden zu schicken, um die lokalen Stars in die Studios zu bringen. Bis Mitte der 20er gab es nur die großen klassischen Bluessängerinnen, von denen die Urmutter Ma Rainey und ihre Schülerin Bessie Smith die Charts anführten. Die beiden waren aber irgendwo im Jazz-Blues Genre angesiedelt. Die anderen waren teilweise aus der Vaudeville- und Schausteller-Szene und sangen vereinzelt mit fürchterlich ins operettige verzerrten Stimmen, die durch die schwarze Phrasierungstechnik wohl interessant, aber nur mehr dokumentarischen Wert darstellen.



Blind Lemon Jefferson stieß die Tür zum maskulinen Country-Blues endgültig auf. Seine ersten Aufnahmen machte er noch durch den Trichter, also noch auf die Art von Edison und Berliner. Lemons ausufernde Tenorstimme brachte jedoch den Trichter zum Vibrieren und so mußte man ihn mit Klebeband dämpfen, da die Gitarre vom Gesang akustisch zerscheppert wurde. Erst Anfang der 30er mischte man zwei primitive Kohlemikrophone zu einer Tonquelle. Man hört bei den meisten Jefferson-Aufnahmen, daß seine Gitarre zwischen den Gesangsparts ringt, sich Gehör zu verschaffen. Die oft zum Gotterbarmen krachenden Aufnahmen abgespielter Paramount Platten lassen interessante Gitarrenriffs in die Unkenntlichkeit abdriften. Da gehört schon ein sehr geschultes Ohr, um Lemons sechssaitigen Partner zu hören.
Da viele Schwarze in der Regel nicht genug Geld hatten, um sich eine Abspielmöglichkeit zu leisten, scharte man sich um eine Victrola, die bei Parties als Music-Box fungierte. Die Paramount Platten waren billig und schlampig hergestellt. Die Schneidemaschinen liefen teilweise asynchron und manche Pressungen rauschten schon vom Ladentisch weg. Um das Rauschen zu mindern, empfahl man anstatt der üblichen Stahlnadeln Hartholzeinsätze zu benützen, die eher nach Zahnstochern aussahen. Nach zehnmal Spielen mit Stahlnadel waren die Rillen ausgeleiert und man konnte die Platten nur mehr als Dachschindeln, Kaffeeuntersätze und als Unterlagen für wackelnde Möbel verwenden. Die letzte Charley Patton Platte fand man beim Abriß eines Hauses. Man hatte damit ein Loch in der Mauer abgedeckt und drüberverputzt.
Die Ursache für die elende Qualität von Paramounts Tonträgern lag in der Tatsache, daß man aus Einsparungsgründen die Schellackmasse mit Sägespänen und vermahlenem minderwertigem Holzabfall streckte. So konnte der Preis von 75 Cents pro Platte gehalten werden. Während der Depression in den 30ern verbilligte man bis auf 15 Cents und Schließlich brach Paramount 1932 zusammen. Man ließ sogar die Preßmaschinen stehen, weil sich der Verkauf des Altmetalls nicht einmal mehr lohnte. Der Boden der verlassenen Fabrik verfaulte, brach durch und die schweren Geräte brachen durch den Boden und schlugen zwei Stockwerke bis in den Keller durch. Der Aufstieg und Untergang von Paramount Records ist bereits vor Jahrzehnten in einer Fachzeitschrift dokumentiert worden.



Blind Lemon Jefferson wird sogar von Jazzenthusiasten als archetypischer Bluessänger und phantastischer Gitarrist gefeiert. Die Herkunft seiner Musik wird solange ein Rätsel bleiben, als der gute Paul Swinton uns die Aufklärung durch sein Buch schuldig bleibt. Ich selbst könnte mich in den Hintern beißen, daß ich es versäumt habe, mich mit Thomas Shaw zu unterhalten, als er im Jazzland war. Ebenso geht es mir mit dem leider verstorbenen Sammy Price, der der Sage nach den Pionier des Texas-Blues zu Paramount brachte. Auch Sammy war regelmäßiger Gast im Jazzland. Nur ich Tor war auf dem Mississippi Delta-Trip und hätte besser getan, mich näher zu informieren. Axel Melhardt wollte mich damals mit Thomas Shaw bekanntmachen und ich hatte natürlich wieder einmal meine Zeit in meinem Elfenbeinturm verbracht. Heutzutage sind bereits alle über dem Jordan und ich kann nur mutmaßen und auf Aufklärungsliteratur warten.

Aufklärung tut auch bezüglich der Ablebensumstände Blind Lemon Jeffersons not.
Das wilde, unstete Leben eines nomadisierenden schwarzen Bluessängers, der die USA vom tiefen Süden bis Chicago bereiste, hatte nicht nur Wein, Weib und Gesang bereit. Unfähig zu menschlichen Bindungen benutzte er Frauen als Unterschlupf mit gelegentlicher Bettgeschichte. Da er blind war, mußte Lemon mit allem vorlieb nehmen, was sich bot. Er prügelte seine Bettwirtinnen mit dem Blindenstock, wenn er merkte, daß sie von seiner Whiskyflasche getrunken hatten und die fehlende Menge mit Wasser oder Spiritus gestreckt hatten. Ebenso trug er immer eine 44er in der Tasche, mit der er es mit Zuhältern und Rowdies aufnehmen konnte. Wenn er keinen Gig hatte, nutzte er seine Leibesfülle um  Aggressionen im Boxring zu Geld zu machen. Er war als blinder Preisringer der nie besiegt wurde eine Sensation auf Jahrmärkten und Medicine-Shows. Lemon war Crap-Gambler (Ein Spiel, ähnlich dem Würfelpoker) und verlor oft alles (Bad Luck Blues). Schließlich machte er als bestbezahlter Bluessänger neben Bessie Smith soviel Geld, daß er sich ein Auto mit Chauffeur leisten konnte. Wenn er zu Hause auf Besuch war, ließ er die Mädels von seinem Chauffeur herumkutschieren. Er fraß sich fett und lebte in Saus und Braus.



Am 24.September 1929 beendete Lemon seine letzte Plattensession in den Paramount Studios in Richmond, Indiana. Das war noch vor dem großen Börsencrash an der Wallstreet. Doch irgendwann im Dezember des gleichen Jahres muß man ihn noch einmal ins Studio zitiert haben.  Lemon hatte nach Berichten eine Wohnstätte in Chicago. Lebte er zuletzt in dieser Stadt, oder war er nur Untermieter, wenn er Plattenaufnahmen machte?Niemand weiß das so genau, denn es sind keine Studiodaten aus dieser Zeit bekannt. Das ist der Stoff aus dem Legenden und Sagen gewoben werden. Das größte Mysterium aber sind die Geschichten um seinen Tod. Lemon soll nach einer Plattensession noch auf einer House-Rent Party gespielt haben und gegen die ersten Morgenstunden den Heimgang angetreten haben. Am  Gehsteig stehend, wartete er auf seinen Chauffeur, der ihn nach Hause bringen sollte. Es war die Silvesternacht von 1929 auf 1930 und es war strenger Frost in Chicago. Frühmorgens fand man Lemons Körper steifgefroren und vom Schnee zugeweht. Seine Gitarre lag neben ihm. Jeffersons unrühmliches Ende könnte eine Herzattacke in einer einsamen Straße gewesen sein. Andere Stimmen behaupten wieder, daß der Sänger die Herzattacke im Auto bekommen habe und dann von seinem Chauffeur aus dem Wagen gestoßen wurde. Auto und Chauffeur wurden nie gefunden. Die Mär, daß Lemon während der Party besoffen gemacht, abgestiert und ins Freie gestoßen wurde, klingt eher unwahrscheinlich. Auch von vergiften war die Rede. Ein neidischer Musiker oder Freier, der sich mit Lemon um eine Partyhure gestritten haben konnte, tat ihm eine „Spinne“ in den Whisky und Lemon starb wie später Robert Johnson an ausgekochten Mottenkugeln oder Rattengift. Es gab weder behördliche Untersuchungen, noch irgendwelche Recherchen. J.Mayo Williams, der A&R Manager von Paramount übergab den Leichnam dem Pianisten Will Ezell und der ließ den König des Country-Blues am Negerfriedhof in Wortham verscharren. Nicht einmal für einen Marker, geschweige denn einen Grabstein war Geld da. Kurz nach Lemons Tod räumte eine Tussi, die sich als Witwe ausgab, sein Konto ab und ward nicht wieder gesehen. Auch von Lemons Sohn Miles Jefferson ist mir nichts bekannt.

Blind Lemons Musik ist verklungen, wie seine Persönlichkeit in die gleiche Ewigkeit entschwunden ist, von der sie zu stammen schien. Weder seine Botschaft noch sein Spiel wird außerhalb einer verschworenen Fangemeinde aus Wissenschaftlern und Enthusiasten verstanden. In meinen Soloauftritten aber lebt er weiter, denn ich kenne keinen Musiker, der bei uns diesen archaischen Stil mit Überzeugung spielt. Ich frage mich am Schluß dieser Geschichte, was mich wohl veranlaßt haben mag, über einen fast vergessenen Bluessänger aus dem Jura der Musikgeschichte zu schreiben. Ich gestehe…..Es war mir ein Bedürfnis.

Euer AL COOK